Das Sujet des Subjekts
Was ein Sohn über seinen Maler-Vater schreiben kann, ist als dokumentierte Privatrezeption auch dort noch wahr, wo es am meisten irrt. Als Nicht-Kunsthistoriker aller wissenschaftlichen Legitimationen meines Diskurses entbunden, möchte ich jenen Aspekt des malerischen Werkes Sergius Pausers herausstellen, der mir persönlich im Laufe der Jahre des Zusammenlebens mit diesem Werk der bedeutendste geworden ist. Es ist dies der Aspekt der „Aspekts“: der Anblick als das Zentrum der Porträtmalerei. Das Portrait nimmt einen großen Teil von Pausers Gesamtwerk ein und ist in dem Maße, wie es vielen meiner Zeitgenossen das Unzugänglichste, mir das Nächste geworden.
„Es ist der Künstler, der die Wahrheit spricht, und das Photo, welches lügt, denn in der Wirklichkeit steht die Zeit nicht still“, schrieb Rodin1. „Pauser malt wahr“, vermerkte Albert Paris Gütersloh 2. Was könnte man unter „wahr malen“ verstehen, insbesondere im Bereich des Portraits, wo die Frage nach der Wahrheit als die dunkle Frage nach dem „Treffen“ auftaucht? Wir können nicht entscheiden, ob Gütersloh zu Recht Pauser ein auf Wahrheit gerichtetes Programm unterstellt hat. Dennoch möchte ich versuchen, jene fiktive Wahrheitsintention zu rekonstruieren, von der ich meine, dass Sergius Pauser sie gehabt hätte, damit werde ich einemVorschlag folgen, den Maurice Merleau-Ponty gemacht hat, der schrieb, „ man könnte in den Gemälden selbst eine in ihnen verbildlichte , gleichsam ikonografische Philosophie des Sehens suchen“3.
Wo ein „Subjekt“ als Sujet zum Objekt werden und dieser Transfer durch das exemplarische Subjekt des Künstlers vermittelt und objektiviert werden soll, wie bei der Porträtmalerei, dort wird das Problem des Erkennens des Objektiven durch das Subjekt ein malerisches, wird Malerei in besonderem Maße sich selbst zum Problem, zur Frage, auf die sie antwortet. Auf Fragen ist wahr zu antworten: die Wahrheit ist –im Gegensatz zur Richtigkeit der Abbildung – der Passierschein ins Reich des Allgemeinsten, in welches der Maler das singuläre konkrete Individuum aufheben muss, um es seine Zeitlichkeit überschreiten zu lassen. (Das bloß richtige Abbild teilt die Zeitlichkeit dessen, was es abbildet.) Der Anblick eines Anblickenden thematisiert wie kein anderes Sujet die Subjektivität des exemplarisch sehend-erkennenden Malers selbst. Im in den Blick gebrachten Blick spiegelt sich jenes Drei-Personen-Drama der Portraitsitzung, in welchem –in diskontinuierlichen Folgen von Zögern und Furioso – die Substitutionen von Raum und Fläche, Stillstellung und Verlebendigung, Sammlung und Ausstreuung, Lebens- und Porträtzeit zwischen Modell, Maler und Bild sich vollziehen. Die Malerei wird spannend, wo sie in die Nähe jener Punkte gerät, an denen diese Gegensätze ineinander umschlagen, in die Nähe der Paradoxien. Die zentrale Paradoxie der Porträtkunst, die darin besteht, dass der Null-Grad des Gesichtsausdruckes des Modells dessen „ausdrucksvollsten“ Porträt ergibt 4, dürfte den Porträtmaler Pauser zu seiner speziellen Lösung der malerischen Probleme hingeführt haben, welche Lösung – in meiner Hinsicht im Versuchen eines“ Treffens in der Mitte der Malerei“ besteht. Denn so, wie das Gesicht des Porträtierten in die Mitte seiner möglichen Ausdrücke gebracht werden muss, um als gesammeltes die Kraft einer gesteigerten Potentialität zu erlangen, so bringt Pauser seine Malweise in die Mitte der Malweisen. Das Auffallende an Pausers Malerei ist ihre Unauffälligkeit, das Eigentümliche an ihr ist, wie sie sich den positiven Bestimmungen entzieht und sich am ehesten von dem her bestimmen lässt, was sie vermeidet.
Um den Begriff „Mitte“ auf Kunst anwenden zu können, muss man ihn aus jener Verwendung, in der er in Hans Sedlmayrs einst berühmtem Buch „Verlust der Mitte“ stand, herauslösen 5. Mag es auch in gewissem Sinne treffend sein, die Bewegung der modernen Kunst „exzentrisch“ zu nennen, so bleibt doch Sedlmayrs Gleichsetzung der „Mitte“ mit einem nicht näher definierten, konservativ verstandenen „Humanum“, welches er in der Folge an der modernen Kunst nicht mehr wahrnehmen konnte, das Ergebnis ideologisch bedingter Blindheit. –Ein ebenso großes Missverständnis wäre es allerdings, den Begriff „Mitte“ vorschnell mit einer falschen Harmonisierung gesellschaftlicher Widersprüche zu identifizieren – eine verbreitete Interpretationsweise, welche Kunst allzu unvermittelt emanzipationsgeschichtsphilosophisch einspannen will. Doch auf welche Mitte könnte die malerische Intention Pausers gezielt haben?
In einer ersten Annäherung könnte Mitte als Äquidistanz bzw. allseitige Vermeidungsstrategie gegenüber Impressionismus, Expressionismus, Realismus, Symbolismus und Abstraktion verstanden werden.
Vom Impressionismus trennt Pauser äußerlich die Eigenwilligkeit seiner Farbgebung und Handschrift, programmatisch das (in dieser Eigenwilligkeit angezeigte) Abgehen von der impressionistischen Wahrheitskonzeption, der zufolge „der Künstler nur ein Aufnahmeorgan, ein Registrierapparat für Sinnesempfindungen“ ist (Cézanne) 6. An der Aufgabenstellung der Portraitmalerei gerät eine solche gleichsam empiristische Auffassung des „wahrMalens“ notwendigerweise in Schwierigkeiten, denn das als Inbegriff der Subjektivität absolut gesetzte Empfänger-Subjekt negiert das Objekt als solches, indem es dieses in Farbfecke auflöst, und reduziert sich selbst dabei zum bloß passiven Speicher für Sinnesdaten – wenn auch nur dem Programm nach.
In der Malerei Sergius Pausers geht jedoch der Eigenwert der Farbe und des Duktus auch nicht so weit vom Gegenstand ab, dass dieses Abgehen als expressionistisch zu bezeichnen wäre. Die Wahrheitsintention des Expressionismus besteht in der metaphysischen Trennung der Erscheinung von einer dahinter verborgenen Wahrheit. Demgemäß lautet die gängige Interpretation der Porträts Kokoschkas, sie seien „psychologisch“ und unterzögen ihre Modelle „einem Röntgenprozess“ 7. Im expressionistischen Porträt ist in jener Gleichung, deren eine Seite der in sein Innen und Außen geteilt vorgestellte Mensch, deren andere Seite aber das Gemälde bildet, auf der Seite des Gemäldes die Differenz im Sichtbaren das Äquivalent zum unsichtbaren Inneren des dargestellten Menschen.
Im Gegensatz zur Subjektkonstitution des expressionistischen Porträts steht Pausers Eigenwilligkeit des Pinselstrichs nicht im Dienste einer Bezeichnungsfunktion der subjektiven Innerlichkeit des Modells, welche vom psychoröntgenologisch im Sinne des traditionellen Geniebegriffes begabten Künstler-Subjekt ent-deckt und be-zeichnet wird, sondern legt die sichtbare Spur einer perzeptiven und gestischen Aktivität ins Bild, vermittels derer sich zwei Subjekte in ihrer Begegnung in eine Ikone einschreiben können, ohne dass das eine oder das andere überhöht, verdoppelt (Expressionismus), zerlegt, reduziert oder negiert (Impressionismus) würde. Die Spannung zwischen dem dargestellten Subjekt und der Subjektivität der Darstellung wird von Pauser in einer gleichgewichtigen Lage gehalten – man könnte auch sagen, in ihrer Mitte.
In dieser Vermittlung kann auch eine Entgrenzung des traditionell als Eigenheitsreservat verstandenen „autonomen Subjekts“ auf ein Du hin gesehen werden, wobei das Du – der Andere –jeweils zugelassen wird, indem er sein gelassen wird. Sein gelassen wird in Pausers Portraits der Porträtierte, wie immer er sich zeigt und erscheint. Pauset entschied sich, als er sich von der Neuen Sachlichkeit abwandte, den Verdacht gegen die Welt der Erscheinungen nicht weiterzuverfolgen. Dies haben ihm die Modernen, deren Programm es war, die Erscheinung mit allen denkbaren Mitteln auf ein Eigentlicheres hin zu hintersteigen, stets als „Feigheit vor dem Feind“ ausgelegt; der Feind aber hieß „die Gesellschaft“, zumindest der Kunsttheorie zufolge. Doch Pausers Grundsatz, jeden zu porträtieren, der ihm dazu den Auftrag gab, sollte nicht unbesehen als Anpassungsleistung an eine etablierte Käufersschicht gedeutet werden, denn die an die Verhältnisse überantwortete Auswahl egalisiert die soziale Position des Porträtierten mehr als dass sie sie hervorhebt. Demgegenüber wäre eine Auswahl nach „künstlerischen“ Gesichtspunkten ungleich affirmativer, dabei einer solchen Auswahl die dargestellte Person so bedeutend erscheint wie ihre Darstellung. Die in Pausers Poträtmalerei sichtbar bleibenden Produktionsverhältnisse jeglicher Malerei gehören, wenn man so will, mit zu einem Programm des „wahren Malens“. Als Zugelassenes wird das Soziale bei Pauserbedeutungslos, es löst sich in der Malerei auf, ohne zu verschwinden: Konventionen lassen sich auch durch deren übermäßige Einhaltung unterlaufen. „Der nackte Schein ist es nicht länger: ensühnt.“8 – in diesem dialektischem Gedanken Adornos ist eine Bewegung zu einer in sich überstiegenen Immanenz gefasst; diese Denkfigur einer Transzendenz als gesteigerte Immanenz soll hier „Zielen auf die Mitte“ genannt und für eine Interpretation der Porträts Pausers in Verwendung genommen werden.
Das Betrachten der Bilder wird spannend, sobald einem aufgefallen ist, wie präzise jedes Graphem (jede elementare gestische Einschreibung) in der Mitte seiner möglichen Funktionen gebracht ist, um Malerei in ihrer Paradoxie zu treffen, indem die Oppositionen Linie und Fläche, Zeichnung und Farbe, Bezeichnung und Eigenwert, Repräsentation und Präsenz, Darstellung und Bewegungsspur in jedem einzelnen Graphem unterscheidbar gemacht und damit aufgehoben werden, In den Jahren der sich durchsetzenden abstrakten Malerei hat man Pauser mitunter „gegenstandsgebunden“ genannt, was in der damaligen Auffassung einen negativen Akzent trug; dabei dürfte wohl die Neuheit der Abstraktion dazu verführt haben, die Differenzierung in der Gegenstandskonstitution vorgängiger Malweisen nicht mehr wahrzunehmen. In meiner Sicht ist Pauser „gegenstandsentbunden“, wenn er auch die Vorstellung des Realen in die entgegengesetzte Richtung zu verlassen versucht als die Abstrakten, denen er somit näher scheint als den Expressionisten. Der Kunsthistoriker Erwin Mitsch entdeckte „seit den späten 40erJahren ‚tachistische’ Farbkleckse, …(die) ganz im Dienste der gegenständlichen Bildaussage stehen“ 9. Doch so leicht dieses Paradox in Pausers Malerei erkennbar ist, so schwer lässt es sich aus seiner Notwendigkeit und Konsequenz begreifen. Pauset malt jedes Fleckchen auf dem Bild so, dass es auch als Abstraktes bestehen würde: „abstrakten Realismus“ könnten wir ein solches Malen nennen, wenn wir schon ahnten, wie Paradoxie als „Treffen der Mitte“ verstehbar werden könnte…
Unseren an der Moderne gebildeten Augen erschließt sich die Periode der “Neuen Sachlichkeit“, des „Magischen Realismus“ meist leichter als die spätere, klassische Malerei Pausers, denn auf der Waagschale der Modernität wiegt die Befreiung vom Realismus den Verlust an symbolisch bedeutetem „Dahinter“ nicht auf; zu schwer fällt es uns, besonders wenn es um das Sujet des Subjekts geht, die Vorstellung eines „Wesenskernes“ zu verabschieden und uns auf Pausers späteres Wahrheitsprogramm, einer Fläche Spuren einer Aktivität des Erscheinen-Lassens des Erscheinenden einzuschreiben, einzulassen. Die offenen Türen, leeren Gefäße, geknickten Kakteen, die Interieurs mit Ausblick, die Spielsachen, Masken, Fächer und anderen Symbole der Verdoppelung der Identität des dargestellten Subjekts verschwinden aus den Porträts: Pauset wird ein unmetaphysischer Maler, der weder das „reine Sehen“, noch das „dahinter Sehen“, sondern das reine Malen praktiziert. Gerade diese den Tendenzen seiner Zeit zuwider laufende Entwicklung hat mir seine Porträtmalerei interessant werden lassen.
In den 60er Jahren hat mein Vater gern in Eugen Herrigels Buch „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ gelesen 10. Da ihm jegliche Schwärmerei für östliches Denken fern lag, dürfte seine innige Beziehung zu diesem Buch wohl daher gekommen sein, dass er in den darin beschriebenen kultischen Praktiken des alten Japan eine strukturelle Ähnlichkeit zu seiner eigenen malerischen Praxis wahrnahm. Die paradoxe Erfahrung, das „Treffen“ sich mitunter ereignet, wenn dem Auge und der Hand Eigenrechte eingeräumt werden, also gewissermaßen unter der Bedingung nachgelassener Intentionalität, war ihm aus der Porträtmalerei vertraut. Doch auch andere Elemente des Zen zeigten sich ihm als analog zu eigenen Haltungen: die Aufwertung der praktischen Tätigkeit, liebevoll ausgeführte Gesten, ein ursprüngliches Einverständnis mit dem Objekt, die Gleichschätzung aller Dinge, das Verschmelzen der Dinge mit ihrem Hintergrund, das In-Klammer-Setzen des Dings, das Zulassen des freien Fließens des Lebens in seiner positiven Diskontinuität, das Sich-Einlassen auf Paradoxien, as gleichsam phänomenologische „Zu den Sachen selbst“ 11.
Am Beispiel des Bogenschießens wird bildhaft klar, was „Transzendenz als gesteigerte Immanenz“ bedeutet: an die per definitionem ausgedehnte Mitte produziert eine gesteigerte Differenzierung innerhalb eines sich verengenden Feldes der relevanten Treffer. Die Differenzen rücken zusammen. Pauset zwingt den Betrachter seiner Bilder zu einer Senkung der Reizschwelle zugunsten feinster Unterscheidungen. Das „feine“ an Pausers Malerei hält einen bestimmten Tonus der vom Maler ins Bild eingebrachten Leiblichkeit fest – den Tonus einer in der Stille gesteigerten Aufmerksamkeit.
Sergius Pausers Konzept des „wahrMalens“ könnte gewesen sein, die Kräfteverhältnisse zwischen den beim Malen eines Subjekts durch ein Subjekt beteiligten Elementen einer Position der Mitte differenziert anzunähern, um gleichzeitig den Angeblickten und den Anblickenden im Vollzug ihrer Begegnung zu treffen, und damit auch das Malen selbst als ein Sich-Ereignen der Wahrheit.
Katalogtext zur Ausstellung SERGIUS PAUSER , Retrospektive. Im FRAUENBAD, Baden bei Wien, 1986.
Eine Ausstellung der Niederösterreich-Gesellschaft für Kunst und Kultur
Anmerkungen:
1 A.Rodin: L árt, entretiens réunis par Paul Gsell. Paris 1911, S. 86
2 A.P.Gütersloh : Grundsätzliches über Sergius Pauser. In „Forum“, Österreichische Monatsblätter für kulturelle Freiheit, IV. Jahr, Wien, April 1957, Heft 40, S. 157
3 M.Merleau-Ponty: Das Auge und der Gesit. Hamburg 1967, S. 21
4 E.H.Gobrich: Maske und Gesicht. In: Gombrich, Hochberg, Black: Kunst, Wahrnehmung, Wirklichkeit. Frankfurt/Main 1981
5 H.Sedlmayr: Verlust der Mitte. Berlin 1955
6 P.Cézanne: Das Motiv. In: W. Hess: Über die Kunst. Gespräche mit Gasquet und Briefe. Hamburg 1957, s.9
7 H. Richter: Geschichte der Malerei im 20. jahrhundert. Köln 1974, S. 38
8 T.W.Adorno: Ohne Leitbild. Parva Aesthetiva. Frankfurt/Main 1967, S.132
9 E.Mitsch: Sergius Pauset. Ausstellunskatalog der Graphischen Sammlung Albertina, Wien 1980
10 E. Herrigel: Zen in der Kunst des Bogenschießens. Weilheim 1975
11 U.Eco: Zen und der Westen. In: Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt/Main 1977, S. 212ff.
Text im Ausstellungskatalog der Galerie Kovacek 2006
Sergius Pauser entwickelte sich nach einer Frühphase im Stil der Neuen Sachlichkeit schon in den 30er Jahren zu einem der erfolgreichsten Künstler der so genannten „Österreichischen Malerei der Zwischenkriegszeit“. In dieser späteren Etikettierung sind die historischen Probleme der Rezeption bzw. Nichtrezeption dieser Malergeneration in der Nachkriegszeit bereits artikuliert: verständlicherweise wurden nationale Phänomene gegenüber internationalen abgewertet, die Zeit vor dem Krieg genoss wenig Sympathie, es galt, Anschluss zu suchen an den internationalen Stafettenlauf der Modernismen. Erst Mitte der Achtzigerjahre wurden mit der Ausbreitung des Gedankenguts der Postmoderne auch zeitliche Parallelerscheinungen und lokale Besonderheiten für Kunsthistoriker wieder akzeptabel und interessant. Die modernistische Leitidee der linearen Fortschrittsgeschichte als einziges Wertungskriterium von Kunst verblasste, mit der Wiederentdeckung von Malerei und deren genuin malerischen Qualitäten durch die „Neuen Wilden“ konnte damit begonnen werden, die Lücke zwischen Schiele und Wotruba mit kunsthistorischem Wissen zu füllen. Mit der Eröffnung des Leopoldmuseums hat die Malerei der Zwischenkriegszeit erneut eine Öffentlichkeit gefunden. Die Selektions-Präferenzen des Sammlers Rudolf Leopold jedoch sind umstritten, sodass das Rennen um die Kanonisierung eben erst begonnen hat. Spannend!
Sergius Pauser kann als der letzte Porträtmaler bezeichnet werden, und seine Innsbruck-Vedute demnach als Städteporträt. Doch nicht nur aus dieser Haltung heraus ist die Tiroler Landeshauptstadt mit dem so typischen Fön-Wetter dargestellt. Im Gegensatz zu Kokoschka gibt es bei Pauser kaum Sonnenlicht in den Landschaften. Regen, Nebel, wolkenverhangene Berge und abendlich düstere Wiesen und Wälder ziehen sich durch sein Werk. Es geht um Stimmungen in der Mehrsinnigkeit dieses Alltagswortes, das alle Phänomene der Transmission zwischen inneren und äußeren Zuständen umfasst. Pausers Stimmung ist stets verhalten, melancholisch, leise, karg. Ihre Schönheit ist die eines Moll-Akkords: Es herrscht eine Art schwermütige Harmonie.Das Innsbruck-Bild ist sonnig und dennoch keine Ausnahme. Denn das Licht ist übermäßig hell, um die bedrohlich-gewittrige Föhnlage im scharfen Kontrast zu den schattig dunklen Berghängen zu dramatisieren. Die Komposition fängt den großflächigen Kontrast
von Hell und Dunkel durch vielfältig verschachtelte Diagonalachsen auf. Der Fluss wie die Autobahntrassen, Hochhäuser und Brücken, Wolkenfetzen und Lichtflecken streuen die Asymmetrien, sodass das Ganze trotz aller Gewitter-Spannung nicht ins Wanken gerät. Denn ein Städteporträt zielt auf ein Ganzes, wobei die „seelische Bewegtheit“ mit der äußeren Erscheinung ununterscheidbar zusammenfällt. Projektion und Introjektion, Expression und Impression verschränken sich im Abbild, das damit erst zum Porträt der Stadt Innsbruck wird.